Buchtitel:
„Raue Wasser“ von Rebecca Pert.
Übersetzt aus dem Englischen von Heike Reissig.
Erschienen am 25.10.2022 bei Ecco.
Originaltitel: „Still Water“, erschienen bei Borough Press, Harper Collins UK.
Worum geht’s?
Jane ist ihr Leben lang vor ihrer Vergangenheit geflohen – aus Angst, die psychische Krankheit ihrer Mutter Sylvia geerbt zu haben, die spurlos verschwand, als Jane noch ein Teenager war. Als die Leiche ihrer Mutter gefunden wird, kommen verdrängte Erinnerungen wieder hoch. Alte Wunden werden wieder aufgerissen, und ihr bleibt keine andere Wahl, als sich ihren Dämonen zu stellen.
Ein traurigschöner Debütroman über Familie und Traumata, Erlösung und Neuanfänge vor der rauen Kulisse der Shetlandinseln.
Stimmen zum Buch:
„Beautiful and brutal … a breathtaking debut“ Joanna Cannon
„An atmospheric slow burn … with a sense of foreboding that grows with each page“ Good Housekeeping
Leseprobe:
Da treibt etwas im Steinbruchsee von Crowholt.
Es ist Spätherbst. Nebel liegt auf dem Wasser. Die steilen Kalksteinklippen sind mit Weißdorn, Eschen, Bergahorn und Birken gesäumt, deren vergilbendes, sich kräuselndes Laub zum See hinabschwebt. Ein Schwarm Schwalben kreist am Himmel, bereit für den jährlichen Winterzug.
Zwei Wochen vergehen. Gänse gleiten über den See, ihre V-Formation spiegelt sich im Wasser. Das Ding treibt noch immer in der Mitte des Sees, wird von unsichtbaren Strömungen sanft bewegt. Die Temperaturen sinken allmählich. Eines Nachts friert der Steinbruchsee zu, die Eisschicht so dünn wie die Haut auf einer heilenden Narbe.
Am Morgen kommen zwei Mädchen in Schuluniformen ans Ufer. Sie rauchen Slim-Zigaretten und werfen Steine auf den gefrorenen See, lauschen dem Knacken und Splittern. Sie treten mit den Stiefelspitzen auf den Rand der Eisschicht und kreischen auf, als ihnen das Wasser über die Füße läuft. Eine der Schülerinnen bemerkt, dass ein Stück weiter etwas im Eis steckt. Ein toter Fisch? Ein bleicher Ast ohne Rinde? Doch dann beginnt es zu schneien, die Mädchen fangen Schneeflocken mit dem Mund, und das Ding im Eis ist vergessen.
Schwaches Sonnenlicht bricht durch die Wolken. Der See taut auf. Regen tropft von den kahlen schwarzen Bäumen. Ein Mann kommt mit einem Spaniel vorbei. Er hebt einen Stock auf, wirft ihn in den See, und der Hund hechtet hinterher. In seiner Jugend ging der Mann hier oft schwimmen, in den langen heißen Sommern, als die Steinbrucharbeiten eingestellt worden waren und die Grube sich mit Grundwasser gefüllt hatte. Er erinnert sich noch an den schlammigen Boden zwischen den Zehen, wenn man ins Wasser ging, an den Geruch von Cannabis in der schwülen Luft, an die Felsen, die bleich in der Sommerhitze schimmerten. Die beste Zeit seines Lebens.
Doch dann ertranken dort zwei Jungs aus seiner Schule. Zwölf Jahre alt, ihre jungenhaften Gesichter begannen sich gerade erst zu verfestigen. Der See wurde eingezäunt, am Ufer wurden Schilder aufgestellt:
BADEN VERBOTEN
ACHTUNG UNTIEFEN
LEBENSGEFAHR
Der Mann hat jetzt selbst einen Sohn im Teenageralter. Bei der Vorstellung, sein Sohn würde mit dem Gesicht nach unten im kalten Wasser treiben, wird ihm angst und bange.
Der Hund pflügt durch den See. Da treibt etwas in seiner Nähe, das seltsam riecht, nach Kleidung, Dreck, Fett, Fäulnis, Knochen. Der Hund schwimmt darauf zu.
Der Mann schaut gedankenverloren in den Himmel, als der Hund ihm etwas vor die Füße legt. Er bückt sich, um es aufzuheben, berührt es fast, doch dann erkennt er, was es ist.
Der Mann starrt auf das bleiche, nassglänzende Ding. Mit Schaudern erinnert er sich an die Frau, die vor all den Jahren verschwand, ihr Schwarz-Weiß-Porträt, das einen von jedem Laternenpfahl, aus jedem Schaufenster anstarrte. Die Polizisten in gelben Jacken, die reihenweise die Felder durchkämmten, die Froschmänner, die lautlos ins Wasser glitten, die Schlagzeilen in den Zeitungen.
Der Mann schluckt. Dann holt er mit zitternden Händen sein Mobiltelefon aus der Tasche und ruft die Polizei an.