Mary Beth Keane: Mit dir bis ans andere Ende der Welt

© Eisele Verlag
Mary Beth Keane, © Nina Subin
© Harper Collins US

Buchtitel:
„Mit dir bis ans andere Ende der Welt“ von Mary Beth Keane.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Heike Reissig.
Erscheint am 29.09.2022 bei Eisele.
Originaltitel: „The Walking People“, erschienen 2009 bei Houghton Mifflin Harcourt.

Worum geht’s?
Irland in den 1960er Jahren: Nie hätte Greta gedacht, dass sie ihr Heimatdorf an der irischen Küste jemals verlassen wird – bis sie nach einem tragischen Unfall mit ihrer Schwester nach New York reist, wo die Beziehung der beiden auf eine harte Probe gestellt wird. Mit dir bis ans andere Ende der Welt erzählt von der Liebe in ihren verschiedenen Erscheinungsformen: Von der unerwarteten ersten Liebe zu einem anderen Menschen, von der Liebe einer Mutter zu ihren Kindern, von der Liebe zu einem Ort, an dem man sich ein Leben aufgebaut hat – und von der Angst, dieses Leben wieder zu verlieren.
Eine bewegende Erzählung über die Sehnsucht und die Suche nach Identität, die über viele Generationen hinweg weitergetragen wird.
Das Romandebüt der Autorin des Bestsellers „Wenn du mich heute wieder fragen würdest“.

Pressestimmen:
Radio MDR Kultur „Unter Büchern“ vom 23.11.2022, Rezension von Rainer Moritz (ab ca. 22:50)
„[…] ein bewusst langsames Erzählen […], Keane lässt sich ein auf ihre Figuren […] Das ist eine große Qualität dieses Buches, dass Keane nicht eilend durch ihren Roman schreitet, sondern sich jede Szene genüsslich ausmalt und so den Leser hineinzieht. […] Heike Reissig hat diesen Roman übersetzt [und] hat sich dieser Aufgabe, glaube ich, sehr geschickt angenommen, auch diese epische Breite zu erzählen, auch, sich genüsslich einzulassen auf das, was Keane ausbreitet. Also soweit ich das beurteilen kann, ohne jetzt jede Zeile mit dem Original verglichen zu haben, ist das ein sehr guter deutscher Text geworden.“

Leseprobe
In dem irischen Dörfchen Ballyroan, in einem kleinen Cottage an der Küste, wurde die achtjährige Greta Cahill in dem Bett, das sie sich mit ihrer älteren Schwester teilte, plötzlich durch ein Geräusch geweckt. Es war noch dunkel draußen. Das Geräusch kam nicht vom Meer, auch nicht von den Tieren, die gegen den Wind anbrüllten, oder von einem klappernden Gatter, einer scheppernden Kuhglocke oder dem Regen, der auf das Giebeldach prasselte. Es klang anders, es war neu, und um es besser hören zu können, schob Greta sich die Deckenschichten von den Schultern und setzte sich auf.
„Du lässt die Kälte rein“, maulte Johanna im Dunkeln und zerrte an den Decken, die Greta weggeschoben hatte. Die Schwestern rangen miteinander, doch als Greta ein schwacher Lachsgeruch in diese Nase stieg, hielt sie inne. Sie hatte ganz vergessen, dass ein Teil des Fangs der letzten Nacht auf einem Tablett in der leergeräumten oberen Schublade der Kommode lag. Sechs flache, ordentlich aufgereihte Leichen – hinten die Schwanzflossen, vorne die Köpfe, alle entlang der Wirbelsäule aufgeschlitzt und in Salz begraben. Der Geruch der trocknenden Fische war bislang kaum wahrnehmbar, aber Greta wusste, dass er in ein paar Stunden wie ein Jucken in der Nase sein würde, das sich nicht wegkratzen ließ.
„Herrgott“, sagte Johanna und bohrte ihr Gesicht ins Kissen. Greta wusste, was ihre Schwester dachte. Am Abend zuvor, es war schon spät gewesen, hatten sie beide im Bett gelegen und dem üblichen Treiben an der Hintertür und in der Küche gelauscht, und dann ihrer Mutter Lily, die in ihren Latschen hektisch von Versteck zu Versteck schlurfte. Doch dann hatte sie plötzlich die Tür zum Zimmer der Mädchen aufgerissen und verkündet, dass ihr kein Fisch ins Schlafzimmer kam, schönen Dank auch.
Dann hatte sie die Laterne auf den Boden gestellt, das Tablett vorsichtig in die Schublade gelegt, um kein Salz zu verschütten, und dann hatte sie Johanna eine verpasst. Ihre Hand war durch die Dunkelheit gesaust und hatte Johanna mitten auf die Wange getroffen. Überall im Cottage lagen Lachse in Schubladen, sogar im obersten Schrankfach im Flur.
Johanna drehte sich auf den Rücken, während Greta versuchte, das Geräusch, von dem sie geweckt worden war, zu erkennen.
„Pst“, sagte Greta zu Johanna. „Hörst du das?“ Da hörte Johanna es auch. Greta erkannte es daran, wie ihre Schwester den Kopf vom Kissen hob.
„Was ist das?“, fragte Johanna, um kurz darauf selbst die Antwort zu liefern: „Ein Pferdekarren!“ Sie sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. „Ui, ist der schnell!“ Er polterte laut über die Steine, der hölzerne Karrenboden krachte splitternd auf die eiserne Achse. Dann wurde die Welt kurz still und Greta wartete schaudernd darauf, dass das durch die Luft fliegende Gefährt wieder rumpelnd auf dem Boden landete. Das Getöse wurde lauter, je näher der Karren kam, er rollte wie Donner auf das Cottage zu, wie eine trampelnde Herde auf der Flucht. Das Zimmerfenster ging zwar nicht zur Straße hinaus, aber Johanna blieb trotzdem davor stehen und tänzelte gespannt auf den Dielen, während sie in die aufziehende graugrüne Dämmerung spähte. Greta wollte gerade nach ihrer Mutter rufen, da hörten sie den Knall, eine Explosion von Holz, das mit voller Wucht auf Gestein und harten Grund krachte, gefolgt vom vertrauten Geräusch eines davongaloppierenden Pferdes.