Buchtitel:
„Nachttiger“ von Yangsze Choo.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Heike Reissig und Stefanie Schäfer.
Erschienen am 14.10.2019 bei Wunderraum Verlag.
Originaltitel: „The Night Tiger“, erschienen bei Flatiron Books.
Worum geht’s?
Britisch-Malaya in den 1930er-Jahren. Zwischen Dschungel und Kolonialvillen lauert eine tödliche Gefahr …
Der chinesische Houseboy Ren ist in geheimem Auftrag unterwegs: Er soll den amputierten Finger seines Herrn finden, um ihn mit dem Toten zu bestatten. Nur so kann dessen Seele Ruhe finden. Neunundvierzig Tage bleiben Ren für seine Mission, die ihn zu einem britischen Arzt und zu der Tänzerin Ji Lin führt. Doch die Suche ist gefährlich: Ren und Ji Lin geraten in eine Welt von Aberglaube, Liebe und Verrat. Und in eine Serie mysteriöser Todesfälle …
New York Times Bestseller
Pressestimmen:
»Ein Lektürehighlight. Im Bücherregal findet man keinen betörend-schöneren Lesegenuss als ›Nachttiger‹.« literaturmarkt.info
Rezensionen:
Buchvorstellung auf Bellas Wonderworld: „Nachttiger« ist ein unvergleichbar exotisches und märchenhaftes Werk über das Leben, die Familie und das Leben selbst und mein absolutes Jahreshighlight 2019!“
Buchvorstellung bei der Tipperin (Mörderzeilen): „Wie man schon ahnen könnte, vergebe ich begeistert 5 Sterne. Ganz verschiedene Elemente wurden zu einer stimmigen Geschichte verwoben, sodass dieses dicke Buch mich zu keiner Zeit gelangweilt hatte. Das Buch selbst ist so schön aufgemacht wie die Geschichte. Daher empfehle ich dieses Buch uneingeschränkt an Fans von schönen Geschichten, Romanen, historischen Romanen, Krimis, Asien, Tigern, Aberglauben, Traumwelten, Liebesromanen und einfach guten Büchern. Mein Lesehighlight 2020 (…)“
Leseprobe:
Als der ratternde Zug Batu Gajah erreicht, springt Ren von seinem Sitz auf und drückt die Nase an die Scheibe. Die florierende, kleine Stadt, Sitz der britischen Verwaltung im Staat Perak, hat einen sonderbaren Namen: batu bedeutet Stein, und gaja Elefant. Es heißt, die Stadt sei nach einem Elefantenpaar benannt, das einst den Fluss Kinta durchquerte. Der Gott Sang Kelembai sei darüber so erzürnt gewesen, dass er die beiden Elefanten in zwei große Felsen verwandelte, die bis heute aus dem Wasser ragen. Die armen Elefanten, denkt Ren bei sich. Sie hatten es bestimmt nicht verdient, dafür in Stein verwandelt zu werden.
Ren hat den alten Doktor etliche Male am Bahnhof von Taiping abgeholt, aber heute fährt er zum ersten Mal selbst mit dem Zug. Im Waggon der dritten Klasse sind einige Fenster geöffnet, trotz der Rußpartikel von der Dampflok, die bei jeder Kurve hineinfliegen; manche sind so groß wie ein Fingernagel. Ren kann die bleierne Schwüle des Monsuns, die in der Luft liegt, förmlich schmecken. Er legt die Hand auf seine Tasche. Darin bewahrt er den wertvollen Brief auf. Wenn es stark regnet, könnte die Tinte verlaufen, und das will er vermeiden. Beim Gedanken an die zittrige Handschrift des alten Doktors überkommt ihn Heimweh.
Mit jeder Meile, die der Zug dahinrattert, entfernt Ren sich weiter von Dr. MacFarlanes Haus. Drei Jahre lang war dieser große Bungalow, in dem stets gemütliches Chaos geherrscht hatte, Rens Zuhause gewesen. Doch der Doktor ist gestorben, und Rens kleines Zimmer im Dienstbotentrakt, gleich neben dem von Tante Kwan, ist nun leer. Am Morgen hat Ren ein letztes Mal den Fußboden gewischt und die alten Zeitungen schön ordentlich für den Karang Guni, den Lumpensammler, verschnürt. Als er die Tür mit der abblätternden grünen Farbe zuzog, fiel sein Blick auf seine Zimmergenossin, die große Spinne, die oben in der Ecke still ihr Netz flickte.
Rens Augen füllen sich mit Tränen. Doch er hat einen Auftrag zu erfüllen; zum Weinen bleibt keine Zeit. Denn mit dem Tod von Dr. MacFarlane begannen die neunundvierzig Tage seiner Seele abzulaufen. Die Stadt mit dem sonderbaren Namen ist nicht der erste Ort, an dem Ren ohne seinen Bruder Yi zurechtkommen muss. Ren denkt wieder an die steinernen Elefanten. Ob sie Zwillinge waren, wie Yi und er? Manchmal spürt Ren ein Kitzeln, wie von den Schnurrhaaren einer Katze, als wäre Yi noch bei ihm. Als würde das eigenartige Gespür, das ihn mit seinem Zwilling verband und ihn stets vor Gefahren warnte, wieder aufflackern. Doch wenn er sich umschaut, ist niemand da.
Der Bahnhof von Batu Gajah ist ein langgestrecktes, niedriges Gebäude mit einem Schrägdach, das wie eine schlafende Schlange an den Gleisen liegt. Überall in Malaya haben die Briten solche Bahnhofsgebäude errichtet. Auch die Städte sehen fast identisch aus, mit weißen Regierungsbauten und padangs, Grasflächen, die so akkurat geschnitten sind wie der Rasen eines englischen Stadtparks.
Am Fahrkartenschalter ist der malaiische Bahnhofsvorsteher so freundlich, Ren einen kleinen Stadtplan zu zeichnen. Er trägt einen stattlichen Schnurrbart und eine Hose mit messerscharfen Bügelfalten. „Es ist ziemlich weit. Bist du sicher, dass dich keiner abholen kommt?“
Ren schüttelt den Kopf. „Ich kann laufen.“
Ein Stück weiter die Straße hinunter reihen sich chinesische Shophouses dicht aneinander, oben die Wohngeschosse, unten verschiedene kleine Geschäfte mit überquellenden Auslagen. Die Straße führt in die Stadt hinein. Doch Ren biegt nach rechts ab, vorbei an der englischen Schule. Sehnsüchtig streift sein Blick das Holzgebäude mit der weißgekalkten, eleganten Fassade, und er stellt sich vor, wie Jungs in seinem Alter drinnen in den hohen luftigen Räumen lernen oder draußen auf dem großen Rasenplatz spielen. Aber er läuft beharrlich weiter.
Der Hügel führt hinauf nach Changkat, wo die Europäer wohnen. Ren hat jedoch keine Zeit, die vielen Bungalows im Stil britischer Kolonialarchitektur zu bewundern. Sein Ziel liegt hinter Changkat, bei den Kaffee- und Kautschukplantagen.
Der Regen prasselt wütend auf die rote Erde. Ren beginnt zu rennen und hält seine Reisetasche fest umklammert. Kurz bevor er einen großen Angsana-Baum erreicht, hört er das Knattern eines kleinen Lastautos, das den Hügel heraufkommt. „Los, steig ein!“, ruft ihm der Fahrer durch das Fenster zu.
Ren klettert in das Auto, völlig außer Atem. Sein Retter ist ein dicker Mann mit einer Warze auf der Wange.
„Danke, Onkel“, sagt Ren, so wie es sich gehört, wenn man einen älteren Herrn anredet. Der Mann lächelt. Rens Hose ist vom Regen so nass geworden, dass das Wasser auf den Boden tropft.
„Der Bahnhofsvorsteher hat mir gesagt, dass du in diese Richtung willst. Zum Haus des jungen Doktors?“
„Er ist jung?“
„Nicht so jung wie du. Wie alt bist du denn?“
Ren überlegt, ihm die Wahrheit zu sagen. Sie sprechen Kantonesisch, und der Mann wirkt freundlich. Aber Ren bleibt lieber vorsichtig.
„Fast dreizehn.“
„Bist wohl noch nicht in die Höhe geschossen, hm?“
Ren nickt. In Wahrheit ist er elf. Selbst Dr. MacFarlane wusste das nicht. Ren hatte ein Jahr hinzugeschummelt, als der alte Doktor ihn bei sich aufnahm. Das machten viele Chinesen so.
„Hast du dort Arbeit gefunden?“
Ren drückt die Reisetasche fest an sich. „Ich muss dort etwas abgeben.“
Und etwas wiederbeschaffen.
„Der Doktor wohnt noch abgelegener als die anderen Fremden“, sagt der Fahrer. „Nachts würde ich hier nicht herumspazieren. Viel zu gefährlich.“
„Warum?“
„In letzter Zeit wurden hier viele Hunde gerissen. Sogar wenn sie angekettet vorm Haus lagen. Nur Kopf und Halsband blieben übrig.“
Rens Herz krampft sich zusammen, und in seinen Ohren beginnt es zu summen. Kann es sein, dass es wieder begonnen hat, so rasch? „War es ein Tiger?“
„Wohl eher ein Leopard. Die Fremden haben sich vorgenommen, ihn zu jagen. Treib dich besser nicht mehr draußen rum, wenn‘s dunkel wird.“
Sie biegen auf eine langgezogene Auffahrt und fahren an einem gestutzten englischen Rasen vorbei, bis sie vor einem stattlichen weißen Bungalow anhalten. Der Fahrer hupt zweimal kurz. Es dauert eine geraume Weile, da erscheint ein hagerer Chinese auf der überdachten Veranda, der sich die Hände an einer weißen Schürze abtrocknet. Ren klettert aus dem kleinen Laster und ruft dem Fahrer durch den laut prasselnden Regen seinen Dank zu.
„Pass auf dich auf“, erwidert der Mann.
Ren rennt los und springt unter das rettende Dach der Veranda. An der Tür zögert er, weil er triefnass ist und eine Pfütze auf den breiten Teakholzdielen hinterlässt. Doch der hagere Chinese bedeutet Ren, ihm zu folgen und führt ihn in ein Zimmer. Dort sitzt ein englischer Herr an einem Tisch; er ist dabei, einen Brief zu schreiben. Doch als Ren hereinkommt, schaut er fragend auf. Er ist dünner und jünger als Dr. MacFarlane. Seine Brillengläser funkeln im Licht, was es schwer macht, seine Miene zu deuten.
Ren stellt seine ramponierte Reisetasche ab, holt den Brief daraus hervor und übergibt ihn höflich mit beiden Händen. Der neue Doktor schlitzt ihn mit einem silbernen Brieföffner sorgfältig auf. Dr. MacFarlane hat Briefe immer mit seinem Fingerstummel und dem Daumen geöffnet. Ren schaut zu Boden. Es ist nicht gut, die beiden Männer zu vergleichen.
Jetzt, wo er den Brief überbracht hat, wird Ren mit einem Mal sehr müde. Die Anweisungen, die er sich eingeprägt hat, verschwimmen im Nebel und das Zimmer um ihn herum beginnt zu schwanken.
William Acton betrachtet den Brief, den er gerade entgegengenommen hat. Er kommt aus Kamunting, dem kleinen Dorf nahe Taiping. Die Handschrift ist krakelig und zittrig, die Schrift eines kranken Mannes.
Werter Acton,
leider muss ich Sie mit diesem Schreiben überfallen. Ich habe es zu lange aufgeschoben, und nun kann ich kaum mehr einen Stift halten. Da ich keine Angehörigen habe, die dafür in Frage kämen, lasse ich Ihnen dieses Vermächtnis zukommen: eine meiner bemerkenswertesten Entdeckungen, der Sie, so hoffe ich, ein gutes Zuhause geben werden. Ich kann Ihnen meinen chinesischen Hausdiener Ren nur wärmstens empfehlen. Er ist zwar noch jung, aber gut ausgebildet und zuverlässig. Nehmen Sie ihn auf, bis er volljährig ist. Ich bin sicher, dass er Ihnen gute Dienste leisten wird.
Mit kollegialen Grüßen etc. etc.
Dr. John MacFarlane
William liest den Brief abermals. Dann schaut er wieder auf. Der Junge steht vor ihm, Wassertropfen rinnen über sein Gesicht, den schmalen Hals hinab.
„Bist du Ren?“
Der Junge nickt.
„Und du hast für Dr. MacFarlane gearbeitet?“
Wieder ein stummes Nicken.
William mustert ihn. „Gut, dann arbeitest du ab jetzt für mich.“
Und während er den Jungen betrachtet, fragt er sich, ob es Regentropfen oder Tränen sind, die ihm über die Wangen laufen.