Helen Cullen: Die verlorenen Briefe des William Woolf

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Helen Cullen, © Demian Wieland
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Buchtitel:
„Die verlorenen Briefe des William Woolf“ von Helen Cullen.
Übersetzt aus dem Englischen von Heike Reissig.
Erschienen am 22.04.2019 bei Wunderraum Verlag.
Originaltitel: „The Lost Letters of William Woolf“, erschienen bei Penguin.

Worum geht’s?
William Woolf hat den wundervollsten Job der Welt: In einer Londoner Sammelstelle für verlorene Briefe bringt er verirrte Botschaften auf den richtigen Weg. Doch seinen eigenen Weg im Leben scheint er aus den Augen verloren zu haben. Den Traum, Schriftsteller zu werden, hat er aufgegeben, und das Glück ist ihm im Alltag irgendwie abhandengekommen. Als er bei der Arbeit immer wieder neue mitternachtsblaue Briefe entdeckt, die alle an »Meine große Liebe« adressiert sind, erscheint ihm das wie ein Wink des Himmels. Könnte er selbst gemeint sein? Wer ist die geheimnisvolle Verfasserin, die sich nur »Winter« nennt? William beschließt, der Spur der Briefe zu folgen …

Stimmen:
»Eine Liebeserklärung an das Briefeschreiben und eine herausragende, bewegende Hommage an die Macht der Worte. Dieser Roman feiert die Magie von Stift und Papier.« Nina George (Autorin des Bestsellers »Das Lavendelzimmer«)

Buchvorstellungen:
Buchvorstellung bei Bella’s Wonderworld

Leseprobe:
Für Briefe, die verloren gegangen sind, gibt es nur eine Hoffnung auf Rettung. Gefangen zwischen zwei Welten, weil der Empfänger unklar ist oder die Absenderadresse fehlt, landen sie, wenn sie Glück haben, im Depot der verblichenen Briefe in Ost-London. Dort, in den stockfleckigen Räumen eines ehemaligen Teelagerhauses, sind Briefdetektive den ganzen Tag damit beschäftigt, Irrläufer auf den richtigen Weg zu bringen. Fehlende Postleitzahlen, unleserliche Handschrift, vom Regen verschmierte Tinte, abgelöste Adressaufkleber, zerrissene Umschläge, vergessene Straßennamen: Sie alle sind schuld daran, dass Geburtstage verpasst, Prüfungsergebnisse verschwiegen, Herzen gebrochen, Einladungen ignoriert, Geständnisse unterschlagen, Rechnungen nicht beglichen und Gebete nicht erhört werden. Von Land’s End bis Dunnet Head warten Menschen sehnsüchtig auf Post, doch ihre Briefkästen bleiben leer. Und von Tag zu Tag wächst die Enttäuschung, während die Hoffnung allmählich schwindet.
William Woolf arbeitete seit elf Jahren als Briefdetektiv. Er war einer von insgesamt dreißig und hatte die Stelle von seinem geliebten Onkel Archie übernommen. Als William noch ein Knirps war, kam Archie fast jeden Freitag zum Tee vorbei. Er stieg mit seiner knallgrünen Lederjacke von seiner knallgelben Vespa, spendierte Fish and Chips mit Salz, Essig und Knoblauchdip und berichtete begeistert von den neuesten Schätzen, die er hatte retten können. Der kleine William war ganz fasziniert von seinen Erzählungen über die außergewöhnlichen Ereignisse, die sich im Leben ganz normaler Leute zutrugen, und diejenigen, die ihm am besten gefielen, notierte er in einem blau linierten Heft. Und so nahm eine lebenslange Obsession für Geschichten und fremde Geheimnisse ihren Anfang. Als William später Archies Nachfolge als Briefdetektiv antrat, stellte er zu seiner großen Überraschung fest, dass sein Onkel tatsächlich kaum übertrieben hatte. Die Leute schickten wirklich die seltsamsten Dinge mit der Post: Unbegreifliches und Unerhörtes, Dinge von sentimentalem oder materiellem Wert, Erotika und andere Kuriositäten, manches quietschlebendig, manches mausetot. Tatsächlich verdankte das Depot der verblichenen Briefe, das Allerheiligste des Postwesens, seinen Namen den vielen Tierkadavern, die dort früher gestrandet waren. Auf einem Foto von 1937, dem Gründungsjahr der Institution, posierte der erste Briefdetektiv, Mr Frank Oliphant, sogar mit einer Fasanenleiche in der linken und einer Hasenleiche in der rechten Faust hinter einem Tisch, auf dem drei tote Karnickel lagen. Als William seine Arbeit 1979 aufnahm, kamen solche Postsendungen zwar nur noch selten an, doch der Name war geblieben. Zwischen den unverputzten roten Backsteinwänden des Depots war die Anwesenheit seines Onkels noch immer zu spüren; einige ältere Briefdetektive sprachen William sogar manchmal mit Archie an. Er sah ihm aber auch wirklich zum Verwechseln ähnlich mit seinem erdbraunen Lockenkopf, dem rostrot gesprenkelten Kastanienbart, den mandelförmigen, goldgrün schimmernden Haselnussaugen und dem für die Woolf-Männer typischen Nasenhöcker.